Jurybegründung: Gewinner des 3. Twitter-Lyrik-Wettbewerbs ist @jahfaby

Am 11. März 2011 um 14:46 Uhr Ortszeit ereignete sich ein starkes Erdbeben in der Nähe der japanischen Ostküste. Als Folge traf ein Tsunami mit bis zu 16 Meter hohen Wellen auf das Festland. 470 Quadratkilometer Land wurden überflutet und verwüstet. Über 15.000 Menschen wurden getötet, mehr als eine halbe Million Menschen musste aus dem Katastrophengebiet fliehen.

Die Wassermassen beschädigten zahlreiche Atomkraftwerke. Im Kraftwerk Fukoshima I kam es zu mehreren Explosionen, in drei Reaktorblöcken zur Kernschmelze. Die japanische Regierung rief den nuklearen Notfallzustand aus, im Umkreis von 20 Kilometern um das Kraftwerk wurden alle Menschen evakuiert.

Da Japan als hoch entwickeltes Industrieland gilt, kamen andere Nationen zwar zur Hilfe, dennoch war die Bereitschaft allgemein verhaltener als bei Katastrophen in ärmeren Ländern. Kulturell bedingt forderte Japan zudem kaum Unterstützung an. Der deutsche Feuerwehrmann Andreas Teichert, der als Helfer vor Ort war, äußerte in einem Interview mit literaturcafe.de sich jedoch dahingehend, dass sich Japan im Stich gelassen fühle. Teichert: »Japan ist hoch technologisch, aber was nützt es ihnen, wenn auf 500 Kilometern bei teilweise 50 km Verwüstung ins Landesinnere die Kräfte und das Material fehlen. Es sind LKWs verloren gegangen, es sind Bagger verloren gegangen. Da können Sie zum Mond fliegen, wenn Sie die Technik vor Ort nicht haben oder beschaffen können. Ich habe Helfer gesehen, die große Trümmerfelder mit den Händen freiräumen, weil die Technik fehlt.«

In Deutschland führte die atomare Katastrophe in Japan zur erneuten Diskussion um die Atomkraft. Die Regierung hatte noch kurz zuvor mit den Energieunternehmen die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke beschlossen, jetzt kündigte sie unvermittelt den Ausstieg und die sofortige Abschaltung älterer Atommeiler an, offensichtlich auch unter dem Druck der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2011. Für Baden-Württemberg nützte es den Regierungsparteien nichts: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mussten sie die Regierungsmacht vollständig an die Oppositionsparteien abgeben.

Die Vorbereitungen zum Start des 3. Twitter-Lyrik-Wettbewerbs fiel in die Zeit der Katastrophe.

Sowohl das Preisgeld von 500 Euro als auch die Gewinne aus dem Buchverkauf werden den Katastrophenopfern gespendet. Zudem gab es eine Sonderrubrik »Japan«, zu der lyrische Werke mit maximal 140 Zeichen eingereicht werden konnten. Selbstverständlich konnte auch weiterhin zu beliebigen anderen Themen getwittert werden, und ein Gedicht in der Sonderrubrik erhöhte die Gewinnchancen nicht. Dennoch waren von den 155 Gedichten in der Wertung 96 der Sonderrubrik zugeordnet. Die Wahrscheinlichkeit war also groß, dass eines dieser Gedichte gewinnen würde.

Die Jury verleiht den ersten Preis des 3. Twitter-Lyrik-Wettbewerbs an Fabian Neidhardt aka @jahfaby für den Tweet:

Sehe Bilder aus Japan, bin erschüttert und denke: Was für ‘ne Scheiße. Finde kein Bier im Kühlschrank, bin erschüttert und denke dasselbe.

Der Beitrag hebt sich wohltuend, gekonnt und provozierend vom Betroffenheitskitsch und anderer »Katastrophenlyrik« ab. In sarkastisch-ironischer Weise bringt er die kurze Aufmerksamkeitsspanne auf den Punkt, die selbst eine so unvorstellbare Katastrophe wie die in Japan sowohl beim Einzelnen als auch in den Medien bekommt. Gerade noch »erschüttert«, sind im nächsten Augenblick schon wieder alltäglich banale Dinge wichtiger oder andere Medienthemen wie EHEC und Frauenfußball bestimmen die Schlagzeilen. Es ist ein gesellschaftskritisches und politisches Gedicht im besten Sinne und eine Variation des Brechtschen Wortes: »Erst kommt das Fressen und dann die Moral.«

Gerade weil die Katastrophe in vielen Gedichten mit »erstickten Schreien«, »Schreien, die in der Luft gefrieren« oder »dem Aufschrei der Trauernden« peinlich verkitscht wurde, stellt das Gewinnergedicht die Realität mit schlichter Wortwahl dar. Es mag provozieren und anecken – und das ist gut!

Obwohl dies kein weiteres Entscheidungskriterium für die Jury war, drückt dieses Gedicht das aus, was wir mit dem Wettbewerb bewirken wollten: Vergesst die Opfer nicht, weder die in Japan noch die der anderen Katastrophen, egal ob durch Menschen oder Natur verursacht.

Die Jury gratuliert @jahfaby ganz herzlich zum Gewinn und bedankt sich bei ihm und allen anderen Teilnehmern, dass sie diesmal »für Ruhm und Ehre« und für die gute Sache und auch ohne Aussicht auf einen materiellen Gewinn so zahlreich am Wettbewerb teilgenommen haben. Das 3. Twitter-Lyrik-Buch mit allen Tweets ist ab sofort erhältlich.

Die Jury des Twitter-Lyrik-Wettbewerbs

Malte Bremer, literaturcafe.de
Wolfgang Tischer, literaturcafe.de

Gäufelden, 15. August 2011